Kryptogamen

Flechten zählen wegen ihrer unauffälligen, blütenlosen Vermehrung zu den Kryptogamen, was „heiraten im Verborgenen“ bedeutet. Die symbiotischen Lebensformen aus Mikroalge und Pilz wachsen in allen Klimazonen der Erde. Ohne Flechte kein Humus, keine Pflanzen und so weiter. Die uralten Gewächse sind unscheinbar, belohnen aber aufmerksame Beobachtung.

Die Allgegenwart von Plastik(müll) bedingt eine Verschmelzung von organischen Leben mit synthetischen Stoffen. Auch hier sollten wir genauer hinsehen. SecondSkin_Kryptogamen sind Hybriden aus Kunststoff und organischer Mikroalge.

Die künstliche Flechte bildet eine artifizielle Symbiose aus Polyethylenmembran und Mikroalge. Tunnelartige Streifen von PE-Hemdchentüten dienen als Träger der flüssigen Mikroalge (Chlorella). Diese gebe ich in Nester aus ultrafein gedehnten Hemdchentütenstreifen, deren Ränder ich zuvor mit Feuchtigkeit auf der transparenten Trägerplatte fixiere. Eine in jeder Flechteninsel durchgehende, feine PP-Faser verleiht der Membran Stabilität und Zusammenhalt. Der rötlich-orangefarbene PE-Deckel verschließt und rundet den Fruchtkörper der synthetischen Makroflechte ab.

Das (übrigens auch in natura) gut sichtbare Fortpflanzungsorgan der SecondSkin_Kryptogamen ist Gestaltungselement für ein Landschaftsbild in Anlehnung an Monets Seerosen. Der Gedanke dahinter ist, die unscheinbaren Flechten ins Rampenlicht zu setzen und dies nicht nur buchstäblich durch Beleuchtung. Es geht darum,  genussvolle Betrachtungserfahrung eines Landschaftsbildes auf die Betrachtung von Flechten zu übertragen. Und damit Wertschätzung für die Kunst der Schöpfung zu fördern und das Bewusstsein für die allgegenwärtige Hybridisierung natürlicher und synthetischer Ressourcen.

Haut 2017

Eine Innen/Außen trennende/einende Hülle die fühlt, kommuniziert, speichert, leitet. Zelle, Hirnrinde, Haus, Blatt, Wiese, Straße, Wasseroberfläche, Landschaft: Alles kommunizierende Häute. Leben erscheint in Häuten. Selektiv permeabel, variabel in Form, Textur und Funktion.

Haut informiert. Häute lesen Häute und reagieren. Unbedeutende, wichtige oder irreleitende Botschaften, die für Bindung stehen, Flucht, Kampf, Fortpflanzung oder Nahrung. Wir experimentieren mit künstlicher Haut, künstlicher Intelligenz, künstlichem Leben. Die Omnipräsenz des Künstlichen stellt dessen Leblosigkeit in Frage. Die menschliche Denkhaut mag in lebendig oder künstlich trennen, andere Häute nicht. Sie mischen sich, wo Leben Material in Leben wandelt.

Wer Kunststoffe erzeugt, sie in Form bringt, verwendet, schreibt sich ein in die Haut der Zivilisation und Natur. Das Prinzip Haut umfasst Material und Leben. Algen bestehen primär aus Chloroplasten umschließenden Zellwänden. Ihre Wahrnehmung spielt sich gewöhnlich in anderen Dimensionen ab als die menschliche. Hier aber gehen Cortex und Mikroalge, lebendige Gewebe mit mehr Gemeinsamkeiten als Unterschieden, eine experimentelle Symbiose ein. In Häuten gespeicherte  Erfahrungen des Prozesses sind ästhetisch zugänglich als Schlüssel zu weiter führenden Kontakterlebnissen.